Wie Omikron die Pandemie verändert
Die Forschenden sind sich einig: Omikron ist ansteckender, verläuft aber milder als die Delta-Variante des Coronavirus. Was bedeutet das für die aktuelle Welle – und für die Zeit danach? Der Infektiologe Hansjakob Furrer ordnet ein.
Binnen kürzester Zeit hat sich die Omikron-Variante des Coronavirus weltweit verbreitet. In vielen Ländern hat sie die Delta-Variante verdrängt und verursacht beispiellos hohe Fallzahlen: Momentan infizieren sich global mehr als doppelt so viele Menschen wie je in der Pandemie zuvor. Und trotzdem schlagen die Forschenden nicht lautstark Alarm, wie in vorherigen Wellen. Vielmehr klingen die Warnungen aus der Wissenschaft dieses Mal etwas verhaltener. Doch auf welche Informationen beruft sich die Wissenschaft überhaupt bei einer derart neuen Variante? Wie verlässlich ist dieses Wissen und welche Aussagen erlaubt es zum weiteren Verlauf der Pandemie?
Praxis bestätigt die Studienergebnisse
Schon jetzt sei das Bild, das die jüngsten Studien beispielsweise aus England und den USA zeigen, klar, sagt Hansjakob Furrer, Chefarzt der Infektiologie am Berner Inselspital: «Alle Studien, auch wenn sie noch im Pre-Print-Stadium sind, deuten in die gleiche Richtung», sagt Furrer. Und zwar: «Die Wahrscheinlichkeit, dass man schwer erkrankt, ist bei Omikron im Vergleich zu Delta kleiner.» Schon jetzt besteht diesbezüglich also ein wissenschaftlicher Konsens. Ebenso zeigt sich, dass die neue Variante deutlich ansteckender ist. Die Beobachtungen der Unterschiede zu früheren Varianten bestätigen sich auch im Spitalalltag des Infektiologen. Alles deute darauf hin, dass Omikron mittlerweile unter den Neuinfektionen wie auch bei den Hospitalisierungen dominiert. «Die Abstrich-Tests bei unseren Patientinnen und Patienten weisen eine deutlich höhere Virenanzahl im oberen Rachentrakt aus. Das bedeutet, dass beim Atmen, Husten oder Sprechen mehr Viren austreten», erläutert Furrer. Damit lässt sich die deutlich höhere Ansteckungsrate der Omikron-Variante erklären. Im Gegenzug scheine es so, dass die Viruslast in der Lunge gesunken ist. Das könnte die leichteren Verläufe erklären, denn in der Lunge richtet das Coronavirus die grössten gesundheitlichen Schäden an.
Die kommenden Wochen werden schwierig
Im Vergleich zu Omikron verursachten vorherige Varianten immer mehr schwere Krankheitsverläufe – die Trendwende ist daher grundsätzlich erfreulich. Noch ist es aber zu früh für Optimismus, warnt Hansjakob Furrer: «Wenn im Vergleich zu vorherigen Wellen dreimal weniger Menschen schwer erkranken, aber fünfmal mehr Menschen sich infizieren, sind das immer noch mehr Menschen, die schlussendlich ins Spital müssen.» Dass die Spitäler noch stärker belastet werden könnten als im letzten Winter, betonte auch Tanja Stadler, Chefin der Covid-19 Science Task Force. Dabei ist die grösste Herausforderung aktuell die schiere Zahl der Fälle. Konkret bedeuten die hohen Infektionszahlen also vor allem einen hohen Anteil an Beschäftigten, die aufgrund der Erkrankung ausfallen. «Wir hören aus vielen Ländern, dass das Gesundheitssystem überfordert ist. Das liegt auch daran, dass viel Gesundheitspersonal infiziert ist und ausfällt», sagt der Infektiologe dazu. Der Personalengpass, der bereits auf den Intensivstationen besteht, würde sich allgemein auf alle Mitarbeitenden in den Krankenhäusern ausweiten.
Endemie als Ausweg?
Die kommenden Wochen, möglicherweise auch Monate, werden also noch einmal eine grosse Herausforderung für das Gesundheitssystem. Doch die Prognosen für die weitere Entwicklung danach sehen besser aus als noch vor zwei Monaten. Dass sich immer ansteckendere Varianten durchsetzen würden, sah Hansjakob Furrer bereits kommen: «Dass die ansteckendste Variante nun eine ist, die weniger krank macht – da hatten wir Glück», sagt Furrer. Nach der Omikron-Welle dürfte kaum noch jemand in der Schweiz weder genesen noch geimpft sein, sind sich Fachleute einig. Damit hat die gesamte Bevölkerung einen gewissen Schutz vor schweren Verläufen. Bleiben künftige Varianten ebenso mild wie Omikron, könnte sich das Coronavirus tatsächlich in die Reihe der stets zirkulierenden Erkältungsviren einreihen, ohne dass das Gesundheitssystem noch einmal so an seine Grenzen stösst wie in der Pandemie. Doch noch ist es etwas zu früh, um sich zu freuen: «Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Coronavirus eine neue Variante entwickelt, die sich so leicht verbreitet wie Omikron und trotzdem die Lunge so schwer angreift wie die Delta-Variante», warnt Furrer. Doch auch wenn erst einmal noch die Hürde der Omikron-Welle überwunden werden muss, zeigt sich der Infektiologe vorsichtig zuversichtlich. Die Vorzeichen auf einen Ausweg aus dieser Pandemie stehen besser als je zuvor.
Jochen Tempelmann