Lob des Auswendiglernens
In diesen schönen Julitagen gehen mir bei meinem Frühspaziergang zwischen zwei Weizenfeldern, die in üppiger Ährenpracht vor mir liegen, Verse durch den Kopf: «Es wallt das Korn weit in die Runde / Und wie ein Meer dehnt es sich aus; / Doch liegt in seinem stillen Grunde /Nicht Seegewürm noch andrer Graus.»
Warum kenne ich dieses Gedicht von Gottfried Keller? Ich erinnere mich, wie ich in der sechsten Klasse alle vier Strophen einpauken musste – nicht zu meiner Begeisterung. Heute erst begreife ich die Tiefe und die Kraft dieser Dichterworte.
Ich musste seinerzeit auch ganze Partien aus Schillers «Wilhelm Tell» auswendig lernen. Und ich kann noch heute fast den ganzen Tell-Monolog – vor dem Schuss auf Gessler – hersagen; das innere Ringen des Schützen, ob es sich in der Hohlen Gasse um die legitime Beseitigung eines Tyrannen oder um gewöhnlichen Mord handle.
Auch erinnere ich mich, wie meine betagte Mutter täglich eine Stunde mit ihrer dementen, in Lugano wohnenden Schwester am Telefon Lieder sang. Wenn diese sonst auch alles vergessen hatte, so kannte sie doch noch immer die Strophen von Volks- und Kirchenliedern, ja auch von «Lumpe-Liedli». Alles auswendig! Sie schwebte bei diesem Singen in grosser Glückseligkeit, wie uns die Pflegerin versicherte.
Dann ist das Auswendiglernen in der Schule ausser Mode gekommen. Wichtig sei, meinten die modernen Pädagogen, dass die Kinder eigene Gedanken entwickeln, statt anderen nachzuplappern. Auch ich fand das eigentlich eine ganz gute Sache, denn es ist schön: «Die Gedanken sind frei, / Wer kann sie erraten? / Sie ziehen vorbei / Wie nächtliche Schatten.» Denken ist bequemer als auswendig lernen. Doch auch diese Weisheit ist ein gedichteter Liedtext, den ich als Junger lernen musste. Zum Glück.
E gfreuti Wuche.
Christoph Blocher